Die Ampel muss die Reform der EU-Fiskalregeln unterstützen

Forderungen nach einer Lockerung der EU-Stabilitätskriterien werden lauter. Ohne eine Anpassung könnten Länder wie Italien oder Frankreich zu empfindlichen Sparmaßnahmen verpflichtet sein und den erhofften Konjunktur-Aufschwung so gefährden, schreibt der Wirtschaftsweise Prof. Achim Truger im Gastbeitrag.
Auf die schwere Corona-Wirtschaftskrise hat die EU ganz anders als auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 reagiert. Damals versank der Euroraum ein halbes Jahrzehnt in einer katastrophalen ökonomischen, sozialen und politischen Krise. Diesmal stemmte sich die Wirtschaftspolitik in der EU von Anfang an entschlossen gegen die Krise.
Die EZB stellte schnell Liquidität bereit und stabilisierte die Staatsanleihemärkte. Die EU setzte den Stabilitäts- und Wachstumspakt, also die Schuldenregeln, bis zum Jahr 2023 aus, sodass die Mitgliedstaaten Unternehmen und Beschäftigte unterstützen konnten. Schließlich kam es nach einigem politischen Ringen sogar zur Einigung auf den knapp 700 Milliarden Euro starken Europäischen Aufbauplan, der nun den Aufschwung unterstützen soll.
Stimme der Ökonomen
Klimawandel, Lieferengpässe, Corona-Pandemie: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona*-Hilfen* und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?
In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen ab sofort Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.
EU-Fiskalregen: Vom Schuldenstandskriterium droht Unheil
Erst einmal hat die EU damit also ganz viel sehr gut und richtig gemacht. Dennoch drohen große Gefahren, falls das fiskalische Regelwerk des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nach der Krise unverändert wieder in Kraft gesetzt werden sollte. Vor allem vom Schuldenstandskriterium droht Unheil: Länder, deren Schuldenstand 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigt, müssen sich schnell genug auf den Grenzwert von 60 Prozent zubewegen.
Dies könnte gerade die ohnehin von Euro- und Corona-Krise schwer gebeutelten Staaten, wie Italien, Spanien und Portugal, aber auch Frankreich, mit Schuldenständen weit oberhalb von 100 Prozent stark treffen. Sie könnten zu einer stark restriktiven Finanzpolitik mit empfindlichen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen gezwungen sein. Das würde wiederum die positiven Effekte des Europäischen Aufbauplans zunichtemachen und den Konjunkturaufschwung gefährden.
EU braucht eine Reform der Fiskalregeln
Um dies zu verhindern, braucht es eine Reform der EU-Fiskalregeln, die den Mitgliedstaaten vor allem bei den Vorgaben für den Abbau der Schuldenstandsquote mehr Spielraum gibt. So könnte man für alle Staaten den Grenzwert für die Schuldenstandsquote von 60 Prozent z.B. auf 90 oder 100 Prozent anheben. Alternativ könnte man Staaten mit besonders hohen Schuldenstandsquoten individuell längere Anpassungsfristen oder übergangsweise weniger ehrgeizige Zielschuldenstände einräumen. Zudem brauchen die Staaten mehr Spielraum zur Finanzierung wichtiger öffentlicher Zukunftsinvestitionen, allen voran zur Bekämpfung des Klimawandels*.
Genau solche Reformvorschläge dominieren mittlerweile die europäische und internationale Debatte. Institutionen, von denen man dies in der Vergangenheit nicht unbedingt erwartet hätte, setzen sich dafür ein, unter anderem das Europäische Parlament, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Europäische Fiskalausschuss, der Europäische Stabilitätsmechanismus, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds – von einer langen Liste von Ökonominnen und Ökonomen und ökonomischen Forschungsinstituten und Think Tanks ganz abgesehen.
Ungeheure Konsolidierungsanstrengungen
Aber belohnt man die Staaten mit den hohen Schuldenständen dann nicht dafür, dass sie in der Vergangenheit über ihre Verhältnisse gelebt und die Regeln nicht eingehalten haben? Nichts könnte falscher sein: Gerade die Krisenstaaten in Südeuropa haben von 2010 bis 2015 in dem Versuch, die Regeln einzuhalten, ungeheuerliche Konsolidierungsanstrengungen in der Größenordnung von mindestens fünf bis zehn Prozent der Wirtschaftsleistung unternommen.
Auf Deutschland übertragen hätte das 50 bis 100 Prozent des Bundeshaushalts oder aller Länderhaushalte entsprochen – schwer vorstellbar, wie annähernd Vergleichbares in Deutschland hätte politisch durchgesetzt werden sollen.
Dass sich die unvorstellbaren Konsolidierungsbemühungen in den Krisenstaaten nicht auszahlten, lag daran, dass sie die Wirtschaftskrise verschärften und die Staaten in einer schweren Rezession gefangen hielten. Das wiederum verhinderte, dass die Staatsfinanzen sich erholten und führte sogar zu einem Anstieg der Schuldenstände in Relation zur Wirtschaftsleistung, einfach, weil die Wirtschaftsleistung sank. Erst als 2015 die Interpretation der Fiskalregeln gelockert wurde, konnte sich die Wirtschaft erholen und der Anstieg der Schuldenstandsquoten wurde gebremst.
EU-Fiskalregeln: Brüssel muss nächsten Schritt gehen
Mit der expansiven Reaktion auf die Corona-Krise hat die EU daher auch die Lehren aus den schweren wirtschaftspolitischen Fehlern in der Eurokrise gezogen. Nun muss sie noch den nächsten Schritt gehen und die EU-Fiskalregeln, wie von einer großen Mehrheit von Institutionen und BeraterInnen gefordert, entsprechend reformieren. Die EU sollte die wieder aufgenommene Überprüfung der ökonomischen Governance daher als Chance für die Reform der Fiskalregeln nutzen.
Eine besondere Bedeutung kommt hierbei der neuen deutschen Bundesregierung* zu. Sie muss ihre traditionelle Rolle als Vermittlerin zwischen den südeuropäischen Staaten und Frankreich auf der einen und einigen sogenannten sparsamen mittel- und nordeuropäischen Staaten auf der anderen Seite nutzen, um die Reform voranzutreiben.
EU-Fiskalpakt: Selbst die Niederlande schwenkt auf einen Reformkurs ein
Optimistisch stimmt hierbei, dass die neue Regierung in den Niederlanden, die finanzpolitisch in der EU traditionell zu den größten Reformbremsen zählten, nunmehr für eine Modernisierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts eintritt. Auch die neue Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag für eine Weiterentwicklung der EU-Fiskalregeln ausgesprochen. Sie muss nun auch entsprechend handeln. Die Krisenländer könnten eine erneute Kürzungswelle ökonomisch, sozial und politisch kaum überstehen – es geht also um nichts geringeres als den Fortbestand des Euro und damit der EU.
Zur Person: Prof. Achim Truger ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Professor für Staatstätigkeit und Staatsfinanzen an der Universität Duisburg-Essen.
*Merkur.de ist Teil von IPPEN.MEDIA.