Ein Schulsystem - viele Meinungen

Burgkirchen - Große Uneinigkeit zwischen verhärteten Fronten herrschte am Dienstagabend bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Bildung im Bürgerzentrum.
Eine Podiumsdiskussion über das Bildungssystem begleitete die "Kick Off"-Veranstaltung des Vereins Pro Jugend e.V., der es sich zum Ziel gesetzt hat, Jugendliche bei der Wahl des passenden Ausbildungsberufs zu unterstützen. In der Debatte wurde schnell deutlich, welch heißes Eisen der Verein bei der Wahl des Diskussionsthemas angefasst hat. Es trafen zum Teil verhärtete Fronten aufeinander, die nur selten Einigkeit erzielen konnten.
"Noten werden als Druckmittel benutzt"
Die meisten der Teilnehmer waren Kritiker des bestehenden Schulsystems, allen voran Thomas Becker, Vorstand von "Aktion Gute Schule" und Prof. Dr. Christina Schenz von der Universität Passau. Becker, selbst Vater mehrerer Kinder, meinte gar, Eltern könnten nur dann das Bildungssystem verbessern, wenn sie auf die Straße gingen und eine Bildungsreform forderten. Unter anderem sprach er sich für ein längeres gemeinsames Lernen der Kinder aus. Seiner Meinung nach produziere die "Selektion nach vier Jahren" einen Konflikt zwischen Eltern und Lehrern. Auch Noten und Stehgreifaufgaben sieht Becker kritisch. Man leiste sich ein System, in dem Noten häufig als Druckmittel benutzt würden.
Bei seiner Forderung nach längerem gemeinsamen Lernen erhielt Becker von Prof. Dr. Christine Schenz eine Argumentationshilfe aus entwicklungspsychologischer Sicht. Kinder brauchten einfach unterschiedlich lange, um ihre Begabungen zu entfalten, so die Professorin. "Begabungen beginnen sich frühestens mit 14, 15 Jahren zu stabilisieren." Eine Trennung nach vier Schuljahren findet Schenz daher "zutiefst ungerecht". Man müssen Kindern mit geöffnete Strukturen mehr Zeit geben.
"Schularten sind begabungsorientiert"
Die Landtagsabgeordnete Ingrid Heckner wollte den Vorwurf eines zu starren und ungerechten Schulsystems nicht hinnehmen. Dass jeder sein Kind aufs Gymnasium schicken wolle und dadurch in der Grundschule Druck entstehe, veranlasse zum Nachdenken über ein eventuell "schiefes Gesellschafssystem", meinte die Abgeordnete. Das Schulsystem verteidigte Heckner als durchlässig und flexibel. So gebe es etwa die Möglichkeit einer Übergangsklasse nach der fünften Jahrgangsstufe. Überhaupt wehrte sich die Landtagsabgeordnete gegen eine Abwertung ganzer Schulzweige. "Schularten sind nicht besser oder schlechter, sondern begabungsorientiert. Es ist für kein Kind irgendwo eine Sackgasse", sagte Heckner.
Andrea Hamberger, die an der Bildungsakademie Inn-Salzach tagtäglich mit Mittelschul- und Realschulabsolventen zu tun hat, beklagte weniger die Trennung der Schüler nach vier Jahren, sondern deren psychologische Folgen für viele Mittelschüler. Oftmals mangele es diesen schlicht an der Motivation. "Es ist traurig, dass wir uns in der vierten Klassen den Spaß am Lernen nehmen", so Hamberger. Wenn sie einen Lehrling zum Chemikanten ausbildet, zählten neben Grundlagen wie Mathematik, Lesen und Schreiben vor allem Pünktlichkeit und Motivation. "Die Chemie ist dann das geringste Problem", so Hamberger.
"Mehr Verzahnung von Theorie und Praxis nötig"
Lehramtsstudent Julian Stauß, sowie die drei Schüler Laurin, Nils und Martina, ergänzten die Debatte mit Eindrücken aus Sicht der Lernenden. Stauß, der an der LMU in München Sonderpädagogik studiert, wünscht sich eine bessere Verzahnung zwischen Theorie und Praxis. Obwohl er während seines Studiums mehr Praktika absolviert hat als frühere Jahrgänge, ist für ihn die Verbindung zwischen Theorie und Praxis noch zu schwach. Nils, Laurin und Martina, die allesamt eine Montessorischule besuchen, plädierten ebenfalls für einen praxisnahen Unterricht und lobten jene Schulart, die sie selbst besuchen.
Für Ingrid Heckner ist die Kritik an den Unterrichtsmethoden nicht, oder zumindest nicht mehr, berechtigt. So lobte sie, dass es inzwischen viele Lerngruppen und Projektunterricht gebe. Die Landtagsabgeordnete sah in der Debatte auch die Zahlen auf ihrer Seite. In allen Bildungsstudien sei Deutschland - und insbesondere Bayern - führend. Es konnte wohl auch deswegen kein Konsens in der Debatte erzielt werden, weil die anderen Teilnehmer ebenfalls auf Studien verwiesen, welche die jeweils eigenen Argumente stützten.
Die Podiumsdiskussion in Bildern:
Engagement für Berufsorientierung Jugendlicher
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion präsentierte Andreas Schubert, Gründer und Vorsitzender von Pro Jungend, seinen Verein. Pro Jugend widmet sich der Berufsorientierung Jugendlicher. Zwei Jahre lang war Schubert auf der Suche nach einem wissenschaftlich anerkannten Verfahren, welches kurz durchführbar ist und Jugendlichen aussagekräftige Informationen über ihre Neigungen und Talente gibt. Letzten Endes entschied sich Pro Jugend für das "Hartman Value Profile", eine aus der Arbeit des US-amerikanischen Professors Robert S. Hartman entwickelte Methode, die bislang vor allem von Unternehmen bei der Auswahl von Führungskräften eingesetzt wurde - und relativ kostspielig ist.
Genau dort liegt eine der Hürden für Pro Jugend. Sowohl die Codes für die Auswertung der Profile und als auch das Mentoring, das jeder Teilnehmer gemeinsam mit seinem Testergebnis erhält, wären beispielsweise für Schulen kaum erschwinglich. Pro Jugend ist deshalb auf der Suche nach Fördermitgliedern und Sponsoren, um den Schülern eine kostenlose Analyse ermöglichen zu können. Parallel dazu arbeitet der Verein an einem Bewerbungsportal im Internet, welches Jugendliche anonymisiert nutzen können. In dieses Portal sollen die Profile integriert werden. Die Überzeugung von Pro Jugend ist, dass dann weniger die Noten oder schlicht der Zufall über den Ausbildungsplatz entscheiden, sondern die Neigungen und Fähigkeiten der Jugendlichen.