Ukrainerin über Flucht: „Gestern stand unser Wohnhaus noch“

Valeria ist 30 Jahre alt und Sozialarbeiterin, ihr Deutsch ist sehr gut. Seit dem 27. Februar hat sich ihr Leben auf den Kopf gestellt, denn sie stammt aus der Donbas-Region und musste vor dem Krieg fliehen. Sie weiß nicht, ob ihr Wohnhaus noch steht. Zusammen mit ihrer Mutter, zwei weiteren Frauen und einem Kind konnte sie nun in Burghausen Unterschlupf finden: Bei einer Familie, die selbst aus Russland stammt.
Burghausen – Valeria stammt aus Rubizhne, einer Stadt mit 38.000 Einwohnern. Sie war gerade im Westen der Ukraine im Urlaub, als der Krieg begann. Ob das Wohnhaus, indem sie lebte noch steht, weiß sie nicht. Sie erzählt, dass ihre Großmutter sterben musste, weil es an medizinischer Versorgung mangelte. „Niemand konnte die Toten mit einem richtigen Begräbnis bestatten, denn es war zu gefährlich.“ Rubizhne taucht in den Nachrichten kaum auf, aber die Stadt ist unter Beschuss. Die russischen Besatzer haben ihre Flagge am Rathaus der Stadt gehisst, so stellen es zumindest Bilder in Social Media dar.
Eigentlich wollte Valeria mit ihrer Flucht noch warten, sagt sie: „Ich hatte kein Ziel in Deutschland und ich wollte nicht irgendwo am Bahnhof sitzen.“ Doch als die 30-jährige Sozialarbeiterin die vielen Autos, Flugzeuge und Menschen beobachtete, die das Land verließen, entschied auch sie sich für die Flucht. Bei Berehowe konnte Valeria die Grenze nach Ungarn überqueren und von dort aus nach Budapest. Am Münchner Hauptbahnhof holten Serguei und Natalia die Ukrainerin ab: Die zwei kommen aus Burghausen.
Serguei und Natalia Prikhodovski sind vor über 25 Jahren nach Deutschland eingewandert. Serguei kam mit seinen Eltern aus St. Petersburg und ist jüdischer Abstammung, Natalia ist sogenannte „Russendeutsche“ aus Sibirien. Die beiden sind seit 24 Jahren ein Paar und haben in Würzburg Chemie studiert. Heute leben sie in Burghausen und haben drei Söhne – einer davon studiert Politikwissenschaft. Serguei ist freundlich und zuvorkommend, er ist rational und auf das Wesentliche konzentriert. Natalie sprudelt über vor Herzlichkeit und Wärme, und man umarmt sie bevor, man weiß was man tut.

Mit wachsender Unruhe verfolgte die Akademiker-Familie in diesem Winter die Nachrichten. Als es schließlich zum Angriff durch Putin kam, standen beide unter Schock, Natalia konnte kaum noch schlafen. Also begann Serguei die Dinge in die Hand zu nehmen und bot Hilfe für Flüchtlinge auf einer Social Media Plattform an. Dort fand Valeria Sitak das Ehepaar und nahm Kontakt mit ihnen auf. Valeria sitzt mit am Tisch. Sie hat ernst und ruhig der Erzählung gelauscht: „Ich habe auf Ukrainisch geschrieben, Serguei auch – dabei sprechen wir eigentlich Russisch.“ In der Ukraine wird Russisch vom größten Teil der Bevölkerung beherrscht, aber besonders im Süden und Osten ist die Mehrheit der Bevölkerung russischsprachig.
Valeria bebt, als sie erzählt, wie dankbar, sie für die Hilfe von Natalia und Serguei ist: „Nicht viele haben so ein Glück wie ich, und bekommen so viel Hilfe, auch emotional.“ Während Natalia abwinkt fügt Valeria noch hinzu: „Ich wäre sonst in einem Tag obdachlos geworden.“ Valerias Mutter, Irina (52) war zum Zeitpunkt von Valerias Ankunft in Burghausen noch in Lwiw, an der polnischen Grenze, bei ihrer Freundin Svetlana und deren Sohn Markijan (10). Als das Burghauser Ehepaar davon erfuhr, luden sie auch die zwei Frauen und den Jungen zu sich ein.

Inzwischen geht der zehnjährige Markijan schon seit zwei Wochen wieder zur Schule. Er spricht sogar schon ein wenig Deutsch. „Ich muss ein ganz großes Lob an die Schulleitung und die Lehrer aussprechen. Die Aufnahme war so unkompliziert!“, schwärmt Natalia. Nachdem die drei aus Lwiw angekommen waren hat Natalia noch eine weitere Ukrainierin aus Kiew in ihrem Haus aufgenommen. Marina (33) ist das Patenkind von Valerias Mutter, Iryna. Natalias Hilfsbereitschaft nimmt kein Ende: „Heute morgen waren wir für die Registrierung von Valeria im Landratsamt: Da waren so viele Frauen, die nicht wissen wohin. Ich hätte sie am liebsten alle mitgenommen“, sagt sie.

Die Ukrainerinnen wollen so schnell wie möglich wieder arbeiten. Drei sind Pädagoginnen, die zwar nicht sehr gut Deutsch sprechen, aber ukrainische Kinder unterrichten könnten. Auch Valeria will so schnell wie möglich wieder arbeiten, doch trotz sehr guter Deutsch-Kenntnisse, meint sie: „Ich habe Angst, mein Deutsch ist nicht gut genug.“ Valeria möchte Geld verdienen, um niemandem weiter zur Last zu fallen, außerdem tut das Arbeiten ihr gut, sagt sie. „Sonst kann man nur rumsitzen und auf das Handy schauen. Das macht traurig und viel Angst.“
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