Aufzeichnungen aus dem Stadtarchiv
Gegen die „zerstörende Pest“: Bereits vor 200 Jahren war Rosenheim eine Impfskeptiker-Hochburg
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Blättert man in Schriftstücken im Rosenheimer Stadtarchiv, so finden sich dort erstaunliche Parallelen zur heutigen Zeit. Denn schon vor 200 Jahren scheint Rosenheim eine Hochburg von Impfskeptikern gewesen zu sein. So beschreibt es jedenfalls der damalige Mediziner Dr. Martin Schmid bezüglich der Pocken-Impfung.
Rosenheim – Man tauschte sich am Stammtisch aus, Nachrichten kamen per Boten, Rosenheim war noch keine Stadt, die Menschen hatten Zeit und die katholische Kirche noch viel zu sagen. Kurz: Ein Zeitreisender aus der Gegenwart würde die Region Rosenheim im Jahre 1807 kaum wiedererkennen. Eines aber hat sich nicht verändert: Rosenheim war schon damals eine Hochburg der Impfskeptiker. Zu schaffen machten den Behörden seinerzeit Eltern, die ihre Kinder nicht gegen die grassierenden Blattern impfen lassen wollten.
Parallelen zur Gegenwart
Einen Bericht darüber, der verblüffend an die Gegenwart erinnert, verdanken wir Dr. Martin Schmid. Dieser Mediziner hat seinen Platz in der Rosenheimer Stadtgeschichte sicher, schon weil er sich um das Badewesen höchst verdient machte. Wie Stephanskirchens Bürgermeister Karl Mair noch in seiner Zeit als Stadtarchivar Rosenheims schrieb, gilt Schmid als „Wegbereiter der Gründung eines Solebades in Rosenheim“. 1821 nahm es seinen Betrieb auf.
Über die Gesundheit der Menschen zerbrach sich Schmid aber auch schon vorher den Kopf. Etwa im Kampf gegen die „zerstörende Pest der menschlichen Gesellschaft“. So nannte der königliche Landgerichts- und Salinen-Arzt die Blattern. Die Impfkampagne, die Bayern als erster Staat weltweit überhaupt verpflichtend einführte, war dem Menschenfreund daher so wichtig, dass er ihr 1816 ein Büchlein widmete: „Bericht über die Schutzpocken-Impfung im Physikatsdistrikte Rosenheim“.
Mit seinen Worten über die zerstörerische Wirkung der Blattern übertrieb der Rosenheimer Mediziner nicht. Die auch Pocken genannte Virus-Krankheit raffte in der Tat unzählige Menschen dahin. Noch zu Schmids Zeiten dürfte gut jedes zehnte Kleinkind an einer Pockeninfektion gestorben sein, gut ein Drittel der Überlebenden verlor das Augenlicht. Allein für Aibling und seine Umgebung verzeichnete Schmid in seinem Büchlein in den Jahren 1804 bis 1806 den Tod von 30 Kindern. Deswegen dachte er der königlich-bayerischen Impfkampagne „ein Denkmal setzen zu müssen“.
1796 hatte der britische Arzt Dr. Edward Jenner die Pockenschutzimpfung entwickelt. Bayern ließ schon wenige Jahre darauf die ersten Impfungen vornehmen. 1807, eben als Verbündeter Napoleons zum Königreich erhoben, verhängte Bayern als erster Staat der Welt sogar eine Impfpflicht. Der Eifer von König Max I. Joseph 1807 mag auf das Ende seines Vorgängers zurückzuführen sein: Der letzte bayerische Kurfürst Max III. Joseph war an Blattern gestorben.
Schmid führte in seiner Heimat Buch, Pfarrsprengel für Pfarrsprengel. Und so stellt Schmid fest, wie in Aibling dank des Engagements des örtlichen Pfarrers viele Kinder geimpft wurden. Allgemein sei die Impfung nur mit „Muth und Kraft“ voranzubringen gewesen. Als Gründe nennt er „Starrsinn der Eltern“, „Abneigung gegen alles, was neu ist“, „Bosheit übelgesinnter Menschen“, Besorgnis um die geimpften Kinder, „Unthätigkeit und Gleichgiltigkeit“ oder auch weite Wege zu den impfenden Medizinern.
Einsatz der Honoratioren
Da half nur der persönliche Einsatz der örtlichen Honoratioren. Schlimm wurde es, wo der fehlte. Im Markt Rosenheim registrierte Schmid, was man heute als „Stocken der Impfkampagne“ bezeichnen würde: „1803 schweigt die Geschichte. Im Jahre 1804 wurde schüchtern und einzeln wieder begonnen und 1805 eben so fortgefahren.“
Rosenheim war, wie Karl Mair berichtet, zwar noch keine Stadt, aber ein blühender Markt, einer der größten im Königreich sogar. Woher also das Zaudern? Unter anderem sei „die Ansicht des damaligen Physikus Doktor Jessenwagner der Ausbreitung der Impfung wenig günstig“ gewesen, urteilt Schmid. Samerberg? Sogar ein noch schwierigeres Pflaster: Die Menschen dort seien karge Verhältnisse gewöhnt, meinte Schmid, gingen als Fuhrleute hinaus in die Welt, ließen „zu Hause die liebe Natur schalten“. Sie seien „eigensinnig und störrisch gegen alles Neue“.
Ab 1807 intensivierte Bayern den Kampf gegen die Blattern. Es kam die Impfpflicht. Brachte sie es allein den Erfolg? Es muss auch an Überzeugungskraft gelegen haben. Nicht zuletzt die Geistlichen seien es gewesen, die in der Region Rosenheim mit Eifer und Aufklärung die Kampagne vorangebracht und den rettenden Vakzinen zum Siegeszug verholfen hätten, schreibt zumindest Schmid.
Genau entgegengesetzt lief es in Tirol. Das hatten die Bayern als Frankreichs Verbündete besetzt. Auch dort spielten die Priester eine entscheidende Rolle – als Verschwörungstheoretiker wider die moderne Medizin. Mit ihrer Behauptung, die Besatzer wollten den Tirolern bayerischen oder gar lutherischen Geist einimpfen, schleuderten sie Funken in den Zunder des Tiroler Grimms. 1809 brach der Aufstand los, der Bayern und Franzosen das Fürchten lehrte.
Weitere Infos online unter www.stadtarchiv.de/stadtgeschichte/rosenheim-als-heilbad/erstes-solebad-bayerns /